Die Hunde bellen (German Edition) by Truman Capote

Autor:Truman Capote [Capote, Truman]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Reportagen und Porträts
Herausgeber: Kein und Aber
veröffentlicht: 2014-10-18T04:00:00+00:00

TANGER

Tanger? Tanger liegt nur eine zweitägige Schiffsreise von Marseille entfernt, ein netter Ausflug immer an der spanischen Küste entlang. Und wenn Sie auf der Flucht vor der Polizei sind (oder wovor auch immer, denn Fluchten gibt es viele), dann kommen Sie unbedingt hierher. Umgeben von Hügeln und vor sich das Meer, liegt Tanger wie ein weißer Umhang auf der nordafrikanischen Küste. Die Stadt ist international und bietet acht Monate im Jahr – von März bis November – ein angenehmes Klima. Es gibt traumhafte Strände mit Sand wie Puderzucker und einer erfrischenden Brandung. Das Nachtleben ist weder spektakulär noch sonderlich vielseitig, aber Nachtschwärmer brauchen nicht vor dem Morgengrauen ins Bett zu gehen. Was weiter nichts Besonderes ist, da die meisten Leute am Nachmittag schlafen und selten vor zehn, elf Uhr am Abend gegessen wird. Ansonsten ist an Tanger fast alles außergewöhnlich, und ehe Sie herkommen, empfehlen sich drei Dinge: Lassen Sie sich gegen Typhus impfen, heben Sie Ihre gesamten Ersparnisse ab und sagen Sie Ihren Freunden Lebewohl, denn es ist gut möglich, dass Sie sie nie wiedersehen. Der Ratschlag ist durchaus ernst gemeint, denn die Zahl derjenigen, die nur für einen kurzen Urlaub nach Tanger kamen und dann jahrelang hier hängengeblieben sind, ist erschreckend hoch. Tanger ist ein Bassin, aus dem man nicht wieder herauskommt, ein zeitloser Ort. Die Tage dort ziehen vorbei wie der Schaum auf einem Wasserfall. So vergeht die Zeit wohl auch in einem Kloster, leise wie auf Pantoffeln. Beide, Tanger und das Kloster, haben noch etwas anderes gemeinsam: Sie sind sich selbst genug. Für den normalen Araber ist Europa und Amerika ein und dasselbe, beides liegt sogar am selben Ort, wo immer der auch sein mag. Dem Araber ist das herzlich egal. Und sehr oft lässt sich beobachten, dass ihm Europäer, hypnotisiert vom Klang der Ouds und dem brodelnden Leben ringsum, bereits nach kurzer Zeit zustimmen.

Viel Zeit verbringt man auf dem Petit Socco, einem Platz mit zahlreichen Cafés am Fuß der Kasbah. Auf den ersten Blick erinnert der Petit Socco an eine Miniaturversion der Galleria in Neapel, aber bei näherem Hinsehen wird klar, dieser Platz ist mit nichts auf der Welt vergleichbar. So gibt es zum Beispiel keine einzige Stunde, in der der Petit Socco nicht vollkommen überlaufen wäre. Egal ob Broadway oder Piccadilly Circus, alle diese Orte haben ihre ruhigen Momente, nicht so auf dem kleinen Socco, hier pulsiert das Leben rund um die Uhr. Nur zwanzig Schritte weiter, und du wirst verschluckt vom Dunst der Kasbah. Allein die Gestalten, die aus diesem Dunst hinaustreten auf den lärmenden Rummelplatz namens Petit Socco, sind ein Schauspiel für sich. Hier ist der Laufsteg der Prostituierten, der Drogenumschlagplatz der Stadt, das Spionagezentrum – und auch die Umgebung, in der ganz normale Leute abends ihren Aperitif schlürfen.

Der Socco hat seine eigene Prominenz, aber diese Ehre ist prekär und kann schon in der nächsten Sekunde vorbei sein, denn das Socco-Publikum ist, da es schon alles gesehen hat, ausgesprochen heikel. Im Augenblick ist Estelle der große Star, ein wunderhübsches Mädchen, das sich bewegt wie das Band einer Sportgymnastin.

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